Nobody's perfect

Unsere Gesellschaft hat eine niedrige Toleranzschwelle, was das sogenannte „Normalverhalten“ betrifft. Immer mehr Kinder bekommen eine Diagnose und Begleitmassnahmen verordnet. Damit umzugehen verlangt von den Eltern viel ab. „Ich habe das Gefühl, dass ich normal bin, aber die anderen schätzen mich nicht so ein“, sagt Joel, 9.“ Bei ihm wurde in der ersten Klasse ein Asperger-Syndrom, eine abgeschwächte Form von Autismus, diagnostiziert. „Als Eltern haben wir akzeptiert, dass unser Kind liebenswert anders ist als andere und haben gelernt, damit umzugehen“, sagt seine Mutter Karin Landolt. „Bis wir allerdings wussten, weshalb Joel vieles anders macht, gingen wir nahezu durch die Hölle,“ fährt die 42jährige weiter. „Während einiger Zeit hat das Verhalten von Joel unsere Familie völlig isoliert. Unsere Gedanken kreisten nur noch um Joel. Wenn wir geredet haben, dann über ihn. Wenn wir gestritten haben, dann über ihn. Über allem die große Frage: Warum ist er so? Was haben wir falsch gemacht?“

Wenn das Kind schwierig ist

Familie Landolt steht mit ihren Erfahrungen nicht alleine da. Ganz im Gegenteil: Über die Hälfte aller Schulkinder fallen während ihrer Kindergarten- und Primarschulzeit auf, durchlaufen eine oder mehrere Abklärungen und Therapien.

Heisst das, dass laut Statistik an unseren Schulen eine Generation Verhaltensauffälligen heranwächst? Und: Was heisst das überhaupt, verhaltensauffällig? Zusammengefasst wird ein Kind dann als verhaltensauffällig bezeichnet, wenn es sich erheblich anders verhält als die meisten Gleichaltrigen in der gleichen oder ähnlichen Situation. Was für ein Verhalten normal oder auffällig ist, ist von verschiedenen Faktoren wie der Generation, der Zeit, dem Land, aber auch vom Alter des Kindes abhängig. Das Verständnis darüber, was auffällig ist und was nicht, verändert sich also immer wieder. Wenn mehr als die Hälfte der Schulkinder im Laufe ihrer Schulzeit eine Therapie besuchen, kann man eigentlich nur schliessen, dass unsere Gesellschaft eine sehr niedrige Toleranzschwelle hat, was das sogenannte „Normalverhalten“ von Kindern betrifft. Wir sind scheinbar überfordert mit allem was anders ist.

Was ist das Beste für das Kind?

Tendenziell werden immer häufiger Störungen geortet, bei denen es sich um harmlose Abweichungen handelt. Es werden Gedächtnisfähigkeit, Sprache, Motorik, Aufmerksamkeit und Verhaltenskontrolle überprüft, dabei sind die Entwicklungsunter-schiede gerade im Alter von vier bis sechs Jahren erwiesenermassen riesig. Aber: Diese Erkenntnis nützt Eltern, deren Kinder permanent anecken, recht wenig. Oft werden sie von starken Zweifeln an den eigenen erzieherischen Kompetenzen geplagt. Ist der Leidensdruck für Kind und Eltern gross, muss Hilfe her. Bei Verdacht auf schwer-wiegende Probleme wie psychische Störungen oder zum Beispiel eine Sprachbehinderung ist ein frühes Erkennen wichtig. Es ist für Eltern also eine permanente Gratwanderung: Einerseits soll nicht alles gleich etikettiert und korrigiert werden. Anderseits ist es ganz wichtig, dass bei belastenden Erziehungs- und Schulsituationen gehandelt wird, denn oft schafft eine differenzierte Abklärung Entlastung für Kind und Eltern.

Ein Patentrezept gibt es nicht. Eltern müssen immer abwägen: Was ist das Beste für das Kind? Wer kann uns helfen? Wo finden sich Fachleuchte, Organisationen, denen wir vertrauen können? Eine Abklärung kann Klarheit und Verständnis bringen, die Verhaltensweisen haben dann einen „Grund“, es ist nicht mehr notwendig, nach Fehlern und Schuldigen zu suchen. Auch für das Kind selbst ist eine Diagnose oft eine Entlastung: Es kann ihm leichter fallen, mit seinen Bedürfnissen, seinem Verhalten klarzukommen und sich an die Gegebenheiten anzupassen. Trotzdem ist eine klare Diagnose auch immer schwierig wie Karin Landolt bestätigt: „Wir waren erleichtert, als wir endlich eine Diagnose hatten, die für uns einen Sinn ergab. Im ersten Moment. Im zweiten hatten wir dieses Gespenst "Anderssein, Behinderung" tatsächlich real im Haus. Es sind so widersprüchliche Gefühle, die da in uns Eltern hochkommen. Das muss man erst mal verkraften. Es kommen tausend Zukunftsängste hoch. Und wir mussten Abschied nehmen von den eigenen Wünschen und Vorstellungen. Es lief nicht so, wie wir es uns vorgestellt hatten. Wir mussten als Familie ein neues Selbstverständnis finden. Das hat uns letzlich sehr bereichert.“

Remo Largo, früherer Kinderarzt und Autor zahlreicher Erziehungsratgeber bringt es auf den Punkt: “Wer sein Kind generell als Persönlichkeit sieht, mit Stärken, Schwächen und anderen Besonderheiten, hört hoffentlich auf, es nach seinen Vorstellungen formen zu wollen. Die entscheidende Frage lautet: Welche Erfahrungen braucht dieses Kind? Unter welchen Bedingungen kann es sich entfalten?“

Hilfe holen

 “Über die Jahre haben wir uns immer mal wieder professionelle Erziehungshilfe geholt. Vor allem tat uns gut, dass wir reden konnten und immer wieder die Bestätigung erhielten, dass wir “gute” Eltern waren. Auch konnten wir viele Ratschläge entgegennehmen, die uns im Alltag geholfen haben” sagt Karin Landolt. In schwierigen Erziehungssituationen sind Eltern ganz besonders auf ein stützendes Umfeld angewiesen. Auf Mitmenschen, die ehrlich interessiert und tolerant sind. Auf Lehrpersonen, die im Umgang auch mit schwierigen Kindern gelassen bleiben. Und wenn der Leidensdruck hoch bleibt: Eine systemische Familienberatung kann hier grosse Entlastung bieten.

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